Über das Werk
Die Frau erscheint im Œuvre Barlachs vielschichtig: fröhlich, auch lebenssatt und verzweifelt, träumend, besorgt, als Mensch, der sich übersinnlichen Sphären hingibt. Barlach schreckt dabei nicht vor Tabuthemen wie Diebstahl, Alkoholismus oder ungewollter Schwangerschaft zurück. Nachdem sich er während seines Studiums mit der weiblichen Anatomie auseinandergesetzt hatte, zieht er nach 1900 Aktdarstellungen kaum noch in Betracht. Nach der Rückkehr aus Russland findet er zu einer vereinfachten Formgebung: Körper erscheinen verhüllt, reduziert auf ihren Aussagekern, oft in frappierender Klarheit. Das gilt auch für das "Schwangere Mädchen". Aus dem möglichen Spektrum typischer Aspekte einer Schwangeren (z.B. Selbstzweifel, Gelüste oder Abneigungen gegen Lebensmittel, Erbrechen, Schlafstörungen) greift er hier nur EINEN Zug heraus: die Anstrengung, mit dieser offenbar ungewollten Situation erfolgreich umzugehen. Die bewusst sehr klein gezeigte Standfläche (Plinthe) ist bedeutungsvoll: Die Möglichkeiten, die sie bietet, sind limitiert. Der harte, augenstarre Gesichtsausdruck der Dargestellten spiegelt ihre schwierige innere Gemengelage wider: Sie ist realiter in „anderen Umständen” und muss sehr unterschiedliche Gefühle bewältigen: Trauer, Wut, (Selbst-)Zweifel, die Enttäuschung, keinen Partner zu haben. Hier ist nichts zu sehen von der möglichen Schönheit einer schwangeren Frau im Spannungsfeld von biologischen Veränderungen und Vorfreude auf das Kind.
Die Person wirkt ernst, die zusammengekniffenen Lippen deuten aber - zusammen mit ihrem unter dem Umhang nur zu erahnenden Unterarm und der Hand, die ihre knopflose Umhüllung zusammenhält - darauf hin, dass sie entschieden ist, die vor ihr liegende Herausforderung anzunehmen, sie spürt offenbar Kräfte in sich, die das möglich erscheinen lassen. Das lässt sich direkt ablesen: Selbst die Fläche zwischen den Beinen ist in der Bronze ausgefüllt, wirkt blockhaft, das hilft ihr, standhaft zu sein. Am Ende des Jahrzehnts wird Barlach das Thema erneut aufgreifen. Sein Kriegerdenkmal in der Hamburger Altstadt (Rathausmarkt/Schleusenbrücke), eine hohe Stele, zeigt fleetseitig eine schwangere Frau mit leidgezeichnetem Gesicht, das in die Ferne blickt (in eine ungewisse Zukunft); in ihren Armen sucht ein kleines Mädchen Geborgenheit, aber die Frau ist wie erstarrt, gleichsam angestaut von Trauer wie auch das "Schwangere Mädchen": zwei sehr überzeugende Visualisierungen eines verwandten Themas.
(Horst Müller)