Über das Werk
1923, im Entstehungsjahr dieses Aquarells, lebt Ernst Ludwig Kirchner schon seit einigen Jahren in der Schweiz. Nach längeren Aufenthalten in Davos ist er zunächst in das Haus „In den Lärchen” in Frauenkirch übersiedelt, bevor er sich im Herbst des Jahres in das „Wildbodenhaus” am Eingang zum Sertigtal auf der anderen Talseite seines ehemaligen Domizils zurückzieht. „Unser neues Häuschen ist eine wahre Freude für uns. Wir werden da gut hausen und in großer Ordnung. Dies soll wirklich ein Wendepunkt in meinem Leben werden. Alles muss in übersichtliche Ordnung gebracht werden und das Häuschen so einfach und schlicht wie nur möglich ausgestattet sein, aber schön und intim.”
In dem kleinen Bauernhaus wohnt er mit seiner Lebensgefährtin Erna Schilling inmitten selbst entworfener und -geschnitzter Möbel, die von afrikanischen Vorbildern und schweizerischer Volkskunst inspiriert sind. Die im Aquarell gezeigte, rot bemalte Sitzbank aus Kiefernholz mit einem geschnitzten Frauenakt und zwei kleineren Kinderfiguren hat er erst kurz zuvor fertiggestellt.
Kirchner bringt die gesellige, farbenfrohe Szene mit schnellem Strich und einer dynamisch bewegten Unterzeichnung zu Papier. Sie zeigt das Paar – vermutlich hat sich der Künstler links im Bild selbst dargestellt – mit einem Besucher im blauen Anzug, der dem Betrachter den Rücken zukehrt. Alles in diesem Bild gehorcht der Fläche, was sich sehr eindrucksvoll vor allem bei dem in die Bildebene hochgeklappten runden Tisch nachvollziehen lässt.
Arbeiten auf Papier wie dieses herausragende Blatt nehmen einen bedeutenden Stellenwert im Œuvre des Künstlers ein. Sie fungieren als Schnittstelle zwischen den Gattungen und dienten nicht selten als Inspiration und künstlerisches Experimentierfeld. Der Malerei stehen sie in nichts nach, sie sind ebenbürtige Werke mit eigenem künstlerischem Gehalt. „Das Schaffen”, so der Künstler 1927 in seinem Tagebuch, „[ist] wie ein enges organisches Gewebe, in dem Ansatz und Vollenden fast täglich nebeneinander gehen und in dem eins das anderes treibt.”
Text verfasst und bereitgestellt von Dr. Doris Hansmann, Kunsthistorikerin
Studium der Kunstgeschichte, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Anglistik und Romanistik an der Universität zu Köln, 1994 Promotion. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstmuseum Düsseldorf. Lektorin und Projektmanagerin im Wienand Verlag, Köln. Freiberufliche Tätigkeit als Autorin sowie Lektorin und Buchproduzentin für Verlage und Museen im In- und Ausland. Ab 2011 Cheflektorin im Wienand Verlag, von 2019 bis 2021 Senior Editor bei DCV, Dr. Cantz’sche Verlagsgesellschaft, Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts.