Über das Werk
Bei diesem Gemälde von Christian Rohlfs handelt es sich um eine Rarität. Entstanden 1933 und gemalt in Kreide und Tempera, gehört es zu den wenigen Leinwandbildern des Spätwerks. Die Handschrift des Künstlers, der bis ins hohe Alter mit dem Gestaltungsprozess experimentierte, die Farbe großzügig wegwischte oder abwusch, sie mit Lappen und Bürsten bearbeitete und damit zu einer diffusen, ephemeren Bildwirkung steigerte, ist unverkennbar.
Doch was ist auf diesem Gemälde zu sehen? Der Titel Huldigung bringt uns auf die Fährte der christlichen Kunst, und Rohlfs-Kenner wissen, dass der mit biblischen Geschichten überaus vertraute Künstler zahlreiche Bilder religiösen Inhalts gemalt hat – von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die letzten Lebensjahre. Doch auf der Leinwand ist nichts dergleichen zu erkennen, kein Kind in der Krippe, keine Anbetung der Könige oder Ähnliches. Wir sehen vielmehr eine Familie mit der Mutter im Mittelpunkt, begleitet vom Vater, einer halbwüchsigen Tochter und einem kleineren, an die Frau geschmiegten Kind, um das sie liebevoll ihre große, behütende Hand gelegt hat. Rohlfs, als Sohn eines Bauern im schleswig-holsteinischen Niendorf geboren, fühlte sich zeitlebens mit der bäuerlichen Welt verbunden und präsentiert hier eine Bauernfamilie, die offenbar im Aufbruch zum sonntäglichen Kirchgang begriffen ist. Die Mutter trägt ihr Sonntagsgewand mit rotem Oberteil und einem um den Hals in einer großen Schleife geknoteten Kopftuch, der Vater einen dunklen, festlichen Anzug.
Die monumentale, bildbeherrschende Figur der Mutter bildet das Zentrum, den kraftvollen Ruhepol der Familie. Ihr gilt die Huldigung des Künstlers. Wie seiner Kollegin Paula Modersohn-Becker mit den Bildern der alten Armenhäuslerin als Worpsweder Urgöttin gelingt auch Rohlfs in diesem Gemälde ein symbolisches Urbild der Mutter in geradezu biblischer Einfachheit.
Die geheimnisvolle Darstellung ist durchdrungen von großem Feingefühl und tiefer Spiritualität, hier bringt der Maler noch einmal jene Loslösung vom Stofflichen, Materiellen, jene Durchgeistigung zum Ausdruck, die für sein Alterswerk so charakteristisch ist.
Text verfasst und bereitgestellt von Dr. Doris Hansmann, Kunsthistorikerin
Studium der Kunstgeschichte, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Anglistik und Romanistik an der Universität zu Köln, 1994 Promotion. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstmuseum Düsseldorf. Lektorin und Projektmanagerin im Wienand Verlag, Köln. Freiberufliche Tätigkeit als Autorin sowie Lektorin und Buchproduzentin für Verlage und Museen im In- und Ausland. Ab 2011 Cheflektorin im Wienand Verlag, von 2019 bis 2021 Senior Editor bei DCV, Dr. Cantz’sche Verlagsgesellschaft, Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts.