Über das Werk
Aus dem kühlen Schatten des Vordergrunds gleitet unser Blick in die sonnendurchglühte Lichtfülle eines strahlenden Sommertages. Durch das bewegte Laub zweier hoch aufragender Birken weht die Brise des Sommerwindes. Ein einsam stehender Baum am linken Bildrand lenkt den Blick in den Hintergrund. Von rechts drängt eine Hecke ins Geschehen und verdeckt als dunkle Barriere die Sicht auf den Horizont. Über den leicht gewellten Wiesen spannt sich der blaue Himmel mit harmlosen Sommerwolken.
Der Maler Fritz Overbeck hat diese reizvolle Szenerie 1903 in der unberührten, weiten und offenen Landschaft bei Worpswede eingefangen und sie stimmungsvoll mit Ein Sommerwind (Untertitel laut Werkverzeichnis: Die Pappel) benannt. Exemplarisch für die unorthodoxe Naturauffassung der Worpsweder Künstlerkolonie konzentrierte sich der seit 1894 dort lebende Maler auf einen unspektakulären, scheinbar zufällig beobachteten und wie beiläufig erfassten Naturausschnitt und fixierte den unmittelbaren Augenblickseindruck mit einer spontan wirkenden Bildsprache. Diese Annäherung an das Motiv und der dynamische Pinselschwung verraten die stilprägenden Impulse, die Overbeck durch die Freiluftmalerei der französischen Impressionisten empfangen hatte. Die insgesamt eher zurückhaltende Farbpalette mit nur wenigen aufgehellten Partien offenbart noch die akademische Schulung, die der Künstler um 1890 in Düsseldorf durchlaufen hatte. In formaler Hinsicht jedoch steigern ausdrucksstarke Hell-Dunkel-Kontraste und eine spannungsreiche Komposition mit raschen Sprüngen zwischen Nah und Fern, Fläche und Raum die kraftvolle Aussage des Bildes. Dem Betrachter vermitteln sich der besondere Stimmungsgehalt der ursprünglichen Natur sowie die intensive innere Empfindung, die das sommerlich-heitere Sujet beim Maler auslöste. So atmet das großformatig angelegte Gemälde den Eigencharakter und die Atmosphäre der herben Worpsweder Naturschönheit.
Text verfasst und bereitgestellt von Dr. Andreas Gabelmann, Kunsthistoriker
Dr. Andreas Gabelmann, Kunsthistoriker, geb. 1967 in Landau. Studium der Kunstgeschichte, Baugeschichte und Literaturwissenschaft in Karlsruhe und Bamberg. 1999 Promotion über den badischen Expressionisten August Babberger (1885-1936). 2000 bis 2002 Volontariat am Brücke-Museum Berlin. 2003 bis 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Städtischen Kunstmuseum Singen. Seit 2005 tätig als freier Kunsthistoriker, Autor und Kurator für Museen, Kunstvereine, Galerien, Stiftungen, Künstlernachlässe, Presse und Verlage in Deutschland und der Schweiz. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kunst der Klassischen Moderne mit Schwerpunkt Expressionismus und zur Gegenwartskunst. Nach langjähriger Forschungstätigkeit Publikation des neuen Werkverzeichnisses der Druckgraphik von Erich Heckel (erscheint Herbst 2021). Lebt und arbeitet in Radolfzell am Bodensee.