Über das Werk
1940, drei Jahre vor seinem Tod, malt Otto Modersohn dieses exquisite Blumenstillleben mit Tulpen, Anemonen, Nelken und Schneebällen. Der Künstler hat sich im Sommer zuvor ganz in sein Fischerhuder Refugium zurückgezogen, nachdem eine Erblindung seines rechten Auges weitere Aufenthalte und eine Tätigkeit auf dem Gailenberg im bayerischen Hindelang unmöglich gemacht hat. Die Worpsweder Periode, die seine Bekanntheit als Landschaftsmaler begründet hat, liegt schon lange hinter ihm und die Zeit nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gestaltet sich auch in der abgelegenen Wümmeniederung überaus schwierig. Modersohns letzte Lebensjahre sind geprägt von Kummer und Sorgen, von Stille und Einsamkeit, dabei aber auch von intensiver und überaus ergiebiger künstlerischer Arbeit. Es entsteht – geschaffen ausschließlich im Atelier – ein stimmungsvolles, intimes Spätwerk als Krönung seines malerischen Œuvres.
Die Bilder dieser Phase zeugen mit ihrer koloristischen Reduktion in bisweilen geradezu altmeisterlicher Finesse von einer neuen Sensibilität für die Farbe. Das nur „Geahnte”, das „Angedeutete” ist fortan das Bestreben seiner Kunst, die leisen Töne machen seine Arbeiten aus. Blumenstillleben – inspiriert von der Vielfalt und farbigen Intensität der Alpenflora – begleiten sein Werk seit 1933: Frühlings- und Wiesenblumen, vielfach aber auch Herbststräuße, bisweilen sogar bei nächtlichem Dämmerlicht, arrangiert in Vasen, Gläsern und Krügen vor ruhigem Hintergrund. „Sie werden immer reicher, phantastischer, geheimnisvoller”, notiert der Künstler begeistert im November 1933, „so ein Strauß ist eine Wunderwelt, phantastischer als die Natur da draußen, eine Märchenwelt, ein Feenreich. Gerne male ich auch bei elektrischem Licht […] Dabei schlichte Farben, gebrochen, indifferent, milde, gedämpft, zart, nuancenreich, nicht bunt, einheitlich, eine Dominante, eine Harmonie – ohne Effekte […].” Der Strauß mit Tulpen, Anemonen, Nelken und Schneebällen ist ein reifes Ergebnis dieser gestalterischen Ziele – eine gelungene Zusammenstellung von Frühlingsblumen in einem hübschen Porzellankrug mit Blüten- und Vogelmotiven vor zart nuanciertem Hintergrund, erfasst in duftigen, feinen Pinselstrichen. „Das Ding an sich soll sprechen”, schrieb Otto Modersohn, „der Gegenstand als solcher, die einzelne Blume, natürlich in der großen Einheit und so überall.”
Text verfasst und bereitgestellt von Dr. Doris Hansmann, Kunsthistorikerin
Studium der Kunstgeschichte, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Anglistik und Romanistik an der Universität zu Köln, 1994 Promotion. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstmuseum Düsseldorf. Lektorin und Projektmanagerin im Wienand Verlag, Köln. Freiberufliche Tätigkeit als Autorin sowie Lektorin und Buchproduzentin für Verlage und Museen im In- und Ausland. Ab 2011 Cheflektorin im Wienand Verlag, von 2019 bis 2021 Senior Editor bei DCV, Dr. Cantz’sche Verlagsgesellschaft, Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts.